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Anforderungen des Landesbehindertenbeauftragten an eine Koalitionsvereinbarung

Vorbemerkung

Die Bremische Landesverfassung verbietet nicht nur die Benachteiligung aufgrund einer Behinderung. Vielmehr bestimmt sie darüber hinaus, dass der Staat die gleichwertige Teilnahme von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gemeinschaft fördert und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt. Das am 24.12.2003 in Kraft getretene Bremische Behindertengleichstellungsgesetz (BremBGG) stellt einen wesentlichen Schritt zur Konkretisierung dieses verfassungsrechtlichen Gestaltungsauftrages dar und zielt auf die Gewährleistung einer gleichberechtigten Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft und die Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensführung ab. Um diese Ziele zu verwirklichen, ist es aus Sicht des Landesbehindertenbeauftragten erforderlich, dass die Behindertenpolitik zukünftig integraler Bestandteil aller Felder staatlichen Handelns wird. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Arbeitsmarkt, Bildung und Erziehung, Bauen und Verkehr sowie wohnen. Nachfolgend werden für die genannten Handlungsfelder thesenartig Anforderungen formuliert, die nach Auffassung des Landesbehindertenbeauftragten beim Abschluss einer Koalitionsvereinbarung und der Regierungspolitik in den nächsten vier Jahren erfüllt werden sollten.

Die Anforderungen im Einzelnen

  1. Arbeitsmarkt

    Die aktuell positive Entwicklung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hat sich bisher kaum auf die Situation arbeitsuchender Menschen mit Behinderung ausgewirkt.

    Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, dass das zur Verfügung stehende arbeitsmarktpolitische Instrumentarium der Beschäftigungsförderung gebündelt und koordinierter als bisher eingesetzt wird und neue Ansätze wie die Förderung von Integrationsbetrieben und -projekten sowie von unterstützten Beschäftigungsverhältnissen weiter entwickelt werden. Außerdem sollten die Dienststellen des Landes sowie der Stadtgemeinde Bremen prüfen, ob bei der Vergabe von Aufträgen (z.B. zur Reinigung von Gebäuden oder zur Vernichtung von Akten) die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung gesichert werden kann, indem derartige Aufträge vorzugsweise an Integrationsbetriebe und/oder Werkstätten für Menschen mit Behinderung in höherem Maße als dies bisher der Fall ist vergeben werden
    Um die Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik für Menschen mit Behinderung besser zu koordinieren und effizienter zu gestalten, sollte der Abschluss einer Zielvereinbarung der in diesem Bereich tätigen Institutionen und Verbände (Agentur für Arbeit, BagIS, Integrationsamt, Integrationsfachdienst, Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Senator für Arbeit, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften etc.) in Betracht gezogen werden.
    Außerdem sollte unter Berücksichtigung der entsprechenden Erfahrungen bei der "Teamarbeit" in Hamburg (ARGE) geprüft werden, ob bei der BagIS in Bremen die Betreuung arbeitsuchender schwer behinderter Arbeitslosengeld II Empfängerinnen und Empfänger nicht zentralisiert werden sollte, um das zur Betreuung und Förderung dieses Personenkreises erforderliche Know-how zu bündeln.

  2. Bildung und Erziehung

    Im Bereich der vorschulischen Erziehung und schulischen Bildung von Kindern mit Behinderung kann der sich aus der Landesverfassung und dem BremBGG ergebende Gestaltungsauftrag, die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu fördern, nur umgesetzt werden, wenn ein integrativer und inklusiver pädagogischer Ansatz verfolgt und umgesetzt wird.

    Sowohl Kinderkrippen als auch Kindertagesstätten sind auf eine inklusive frühkindliche vorschulische Pädagogik auszurichten. Die Bildung von sog. Schwerpunkteinrichtungen im Bereich der Kindertagesstätten kann allenfalls Übergangsweise akzeptiert werden, um hierdurch eine zügige Implementation der Frühförderung als Komplexleistung, an der die gesetzlichen Krankenkassen beteiligt sind, zu beschleunigen. Auf Dauer kann eine Segregation von Kindern mit Behinderung in sog. Schwerpunkteinrichtungen nicht akzeptiert werden.

    Die kooperative sowie integrative/inklusive Beschulung von Kindern mit Behinderung wird weiter ausgebaut.

    Die Förderzentren werden in den schrittweisen Ausbau des Ganztagsschulsystems einbezogen. Bei den Förderzentren für Wahrnehmung und Entwicklung, die einen gemeinsamen (kooperativen) Unterricht mit Kooperationsschulen durchführen, erfolgt der schrittweise Ausbau in der Weise, dass sie dann in den Ganztagsschulbetrieb übergehen, wenn an dem jeweiligen Kooperationsstandorten auf den Ganztagsschulbetrieb umgestellt wird.

    Der in § 14 Abs. 2 S. 3 des Bremischen Schulgesetzes verlangte Entwicklungsplan des Landes zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf soll Perspektiven und Maßnahmen für die Realisierung des Auftrags nach § 4 Abs. 5 des Bremischen Schulgesetzes aufzeigen. Dieser bestimmt, dass der Unterricht sowie das weitere Schulleben für behinderte und nicht behinderte Schülerinnen und Schüler so weit wie möglich gemeinsam gestaltet werden soll.
    Dementsprechend ist in dem Landesentwicklungsplan festzulegen, wie die kooperative und integrative/inklusive Beschulung von Kindern mit Behinderung im Lande Bremen schrittweise weiter ausgebaut werden soll.

  3. Wissenschaft

    An der Universität Bremen werden die materiellen und personellen Voraussetzungen für die Erhaltung einer auf Inklusion ausgerichteten behindertenpädagogischen Kompetenz geschaffen.

    Damit die im Zusammenhang mit dem sog. Bologna-Prozess stehenden Veränderungen im Hochschulbereich nicht zu einer strukturellen Diskriminierung von Studierenden mit Behinderung führen, wird geprüft, ob und inwieweit die "Empfehlungen zur Verankerung von Nachteilsausgleichen in Bezug auf Studienzulassung, Workload sowie Studien- und Prüfungsmodifikationen" an den Bremischen Hochschulen übernommen werden können. Die genannten Empfehlungen fassen die Ergebnisse des Experten Workshops „Chancengleichheit im Bologna Prozess für behinderte und chronisch kranke Studierende“ zusammen, der auf Einladung der Equell-Entwickungspartnerschaft vieles ist möglich - Tandempartner in der Wissenschaft in Zusammenarbeit mit der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung des Deutschen Studentenwerks am 29.09.2006 im Wissenschaftszentrum in Bonn stattfand.

  4. Bauen und Verkehr

    Die Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bauen und Verkehr ist für Menschen mit Behinderung von großer Bedeutung, da hierdurch eine wesentliche Voraussetzung für die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft geschaffen wird. Barrierefreiheit in diesen Bereichen ist aber auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und einer älter werdenden Bevölkerung von großer Bedeutung, da hierdurch die Zahl von Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen in Zukunft deutlich steigen wird.

    Die bisher ergriffenen Maßnahmen in diesem Bereich wie beispielsweise die Erarbeitung einer "Richtlinie zur barrierefreien Gestaltung baulicher Anlagen des öffentlichen Verkehrsraums, öffentlicher Grünanlagen und öffentlicher Spiel- und Sportstätten" unter Beteiligung der Behindertenverbände sowie des Landesbehindertenbeauftragten, die barrierefreie Gestaltung des ÖPNV in Bremen sowie des Regio-S-Bahn-Systems werden weiterverfolgt.
    Alle Bahnhöfe im Lande Bremen werden schrittweise barrierefrei umgestaltet.

    Um auch dort, wo auf absehbare Zeit keine Umbau- oder Neubaumaßnahmen durchgeführt werden, die schrittweise Herstellung von Barrierefreiheit zu ermöglichen, wird für derartige Maßnahmen ein jährlicher Betrag in Höhe von mindestens € 500.000 zur Verfügung gestellt. Die nach dem Bremischen Behindertengleichstellungsgesetz verbandsklageberechtigten Verbände sowie der Landesbehindertenbeauftragte werden an der Entscheidung über die Vergabe dieser Mittel beteiligt.
    Darüber hinaus wird geprüft, wie die Bestimmungen der Bremischen Landesbauordnung zum barrierefreien Bauen gegenüber privaten Bauherren zukünftig besser als bisher durchgesetzt werden können.

    Bei einer (eventuellen) Novellierung der Bremischen Landesbauordnung wird die Forderung der nach dem BremBGG verbandsklageberechtigten Verbände sowie des Landesbehindertenbeauftragten auf Erweiterung des Verbandsklagerechts nach § 12 BremBGG auf Verstöße gegen die BremLBO aufgegriffen.

  5. Wohnen

    Um dem Ziel eines selbstbestimmten Lebens für Menschen mit Behinderung näherzukommen, ist es notwendig, nicht nur dem Grundsatz "Ambulant vor Stationär" mehr Geltung zu verschaffen, vielmehr ist ein Wunsch- und Wahlrecht bei der Wohnform für Menschen mit Behinderung erforderlich.

    Um ein solches Wahlrecht in Bezug auf die Wohnform tatsächlich zu verwirklichen, sollten das Sozialressort, die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände sowie die Behindertenverbände unter der Beteiligung des Landes Behindertenbeauftragten eine Zielvereinbarung "Wohnen" abschließen, in der nach einer Bestandsaufnahme die konkreten Schritte zur Verbesserung des Wohnangebots und zur Förderung des Grundsatzes "Ambulant vor Stationär" festgelegt werden sollten.

  6. Umsetzung des persönlichen Budgets

    Die Umsetzung des Persönlichen Budgets, auf das ab dem 01.01.2008 ein Rechtsanspruch besteht, sollte von der Landesregierung unterstützt werden.
    Zwischen dem Sozialressort, Behindertenverbänden sowie den Anbietern von Leistungen im Bereich der Behindertenhilfe sollte eine Zielvereinbarung zur Umsetzung und Förderung des Persönlichen Budgets abgeschlossen werden.

  7. Abmilderung der Folgen der Föderalismusreform

    Durch die im vergangenen Jahr verabschiedete und in Kraft getretene Föderalismusreform sind das Heimgesetz sowie das Gaststättengesetz in die Kompetenz der Länder gefallen. Außerdem läuft das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, dass auch Regelungen zur Herstellung von Barrierefreiheit bei verkehrspolitischen Maßnahmen enthält, aus. Bei der Schaffung landesrechtlicher Regelungen im Bereich des Heim - sowie des Gaststättenrechts werden die jeweiligen rechtlichen Standards der aktuellen Bundesgesetze zu Gunsten von Menschen mit Behinderung nicht unterschritten.

    Bei der Schaffung eines Landesheimgesetzes sollte darauf geachtet werden,
    - das im Bereich des Heimrechts der Bundesländer ein einheitlicher Standard erhalten bleibt,
    - dass die Anforderungen an die bauliche Ausstattung und die Qualifikation des Personals nicht abgesenkt werden,
    - dass das Heimrecht so weiter entwickelt wird, dass
    * dezentrale und kleine Wohneinheiten gefördert werden,
    * der Grundsatz "Ambulant vor Stationär" gefördert wird und
    * es ermöglicht wird, den Heimvertrag aufzuspalten in einen Mietvertrag sowie einen Assistenz-, Pflege- und Versorgungsvertrag.

    In einem (eventuellen) Landesgaststättengesetz sollte eine Bestimmung enthalten sein, die der Bestimmung des § 4 Abs. 1 Ziff. 2a des derzeitigen Gaststättengesetzes entspricht und der zufolge die Erlaubnis für den Betrieb einer Gaststätte dann zu versagen ist, wenn die zum Betrieb des Gewerbes für Gäste bestimmten Räume für behinderte Menschen nicht barrierefrei genutzt werden können, soweit diese Räume in einem Gebäude liegen, für das nach dem 01.11.2002 eine Baugenehmigung für die erstmalige Errichtung, für einen wesentlichen Umbau oder eine wesentliche Erweiterung erteilt wurde oder das, für den Fall, dass eine Baugenehmigung nicht erforderlich ist, nach dem 01. Mai 2002 fertig gestellt oder wesentlich umgebaut oder erweitert wurde. Entgegen dieser Bestimmung kann die Erlaubnis allerdings dann erteilt werden, wenn eine barrierefreie Gestaltung der Räume nicht möglich ist oder nur mit unzumutbaren Aufwendungen erreicht werden kann.

    Für die wegfallenden Bestimmungen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes, dass aufgrund der Föderalismus Reform ausläuft, sind entsprechende landesgesetzliche Regelungen zu schaffen.

  8. Weiterentwicklung des Bremischen Behindertengleichstellungsgesetzes

    Um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung und deren Recht auf Selbstbestimmung weiter zu fördern, sollte das Bremische Behindertengleichstellungsgesetz, das am 24.12.2003 in Kraft getreten ist, weiter entwickelt werden.
    Das Verbandsklagerecht nach § 12 BremBGG sollte erweitert werden:
    - Neben einer Feststellungsklage sollte auch eine Verpflichtungsklage der verbandsklageberechtigten Verbände möglich sein,
    - bei der Schaffung eines neuen Gaststättengesetzes sollten auch Verstöße gegen die in einem solchen Gesetz aufzunehmenden Bestimmungen zur Barrierefreiheit von Gaststätten mit einer Verbandsklage angegriffen werden können,
    - ebenso sollten auch Verstöße privater Bauherren gegen die Bestimmungen der Bremischen Landesbauordnung zur Herstellung der Barrierefreiheit dem Verbandsklagerecht nach § 12 BremBGG unterliegen.

    Die Position einer/eines Landesbehindertenbeauftragten sollte wegen der Bedeutung dieses Amtes und aus Gründen der Rechtssicherheit - wie dies auch in den anderen Bundesländern, die ein Behindertengleichstellungsgesetz haben, der Fall ist - im Bremischen Behindertengleichstellungsgesetz verankert werden.

    Die Worte "im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel" in § 5 S. 2 BremBGG sollten aus Gründen der Rechtsklarheit ersatzlos gestrichen werden. Diese Formulierung wird teilweise als "Allgemeiner Haushaltsvorbehalt" verstanden, der es erlaubt im Falle nicht vorhandener Haushaltsmittel auf die Umsetzung der im Einzelnen geregelten Maßnahmen zur Herstellung der Barrierefreiheit zu verzichten. Ein solcher "Haushaltsvorbehalt“ ist aber mit dem sich aus Artikel 2 S. 3 der Bremischen Landesverfassung ergebenden Gestaltungsauftrag zur Förderung der Teilnahme von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gemeinschaft letztlich nicht vereinbar, vielmehr folgt aus dieser Verfassungsrechtlichen Bestimmung, dass auch im Falle knapp bemessener Haushaltsmittel diese so eingesetzt werden müssen, das auch die Teilnahme bzw. Teilhabe von Menschen mit Behinderung gefördert werden kann.

    Im Übrigen kann auf die Formulierung "im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel" auch deshalb verzichtet werden, weil in dem Bereich von Neubauten sowie großer Um- und Erweiterungsbauten im Sinne des § 8 Abs. 1 BremBGG, bei denen für die Herstellung von Barrierefreiheit tatsächlich auch hohe Kosten entstehen können, ein Kostenvorbehalt besteht, d. h. auf die Herstellung von Barrierefreiheit kann in diesem Bereich verzichtet werden, wenn die Anforderungen an sie nur mit einem unverhältnismäßigem Mehraufwand erfüllt werden können.

Dr. Hans-J. Steinbrück
- Der Landesbehindertenbeauftragte -