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  • Beitrag für die Zeitung "Werkstatt-Dialog" - 22.09.2006

Was heißt für Sie "behindert", Dr. Joachim Steinbrück?

Der Begriff "behindert" ist jünger als man glaubt. Als offizielle Bezeichnung für außerordentlich vielfältige Sachverhalte wurde er erst 1961 durch das damals neue Bundessozialhilfegesetz verbreitet. Der Einführung dieses typisch deutschen Begriffes ging eine zeitweilig heftige Auseinandersetzung voraus: Wissenschaftler der DDR z. B. wandten sich sowohl mit sachlichen Argumenten als auch polemisch gegen dieses Attribut. Der wesentliche Grund dafür, dass nach einer neuen Bezeichnung für Menschen mit ungewöhnlichen oder auffälligen körperlichen, psychischen, mentalen oder kognitiven Eigenschaften gesucht wurde, war der abfällige und abwertende Inhalt, der die Vorläuferbegriffe prägte.

Die systematische Förderung dieser Menschen begann in Deutschland erst im 19. Jahrhundert. Sie galten bis dahin als "blöd". Die schulische und berufliche Förderung von Menschen, die als geistig behindert gelten, ist erst in der Bundesrepublik Deutschland möglich geworden. Mit dem SGB IX setzte der deutsche Staat 2001 generell die Bezeichnung "behinderter Mensch" im gesamten deutschen Recht durch. Zugleich mehren sich die Stimmen derjenigen, die fordern, ganz auf das Attribut "behindert" zu verzichten, weil es zu allgemein, zu grundsätzlich, zu umfassend den ganzen Menschen als "Defizitwesen" charakterisiert.

Dr. Joachim Steinbrück ist 50 Jahre alt und im Alter von 15 Jahren erblindet. Seit dem 1. Juli 2005 ist Dr. Joachim Steinbrück Behindertenbeauftragter des Landes Bremen. 1956 geboren, arbeitete er nach seinem Studium der Rechtswissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen. Parallel zu der Arbeit an seiner Dissertation war er Referent in der Erwachsenenbildung. Von 1990 bis Juni 2005 war er als Richter am Arbeitsgericht Bremen tätig. Als Landesbehindertenbeauftragter sucht Joachim Steinbrück die Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung als Experten in eigener Sache, mit ihren Verbänden und Selbsthilfegruppen, den politischen Entscheidungsträgern, der Verwaltung der Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven sowie mit den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.
"Bin ich behindert oder werde ich behindert?" – Diese Frage birgt einen personenbezogenen sowie einen gesellschaftlichen Aspekt des Begriffs "Behinderung". Beide Gesichtspunkte klingen auch in der gesetzlichen Begriffsdefinition an. Hiernach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Wie sehr sich die körperliche, geistige oder seelische Abweichung von dem – zur Norm erhobenen – "für das Lebensalter typischen Zustand" auf die jeweilige Lebenssituation auswirkt, hängt im wesentlichen auch von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, auf die das Anderssein trifft.

So wird ein Rollstuhlnutzer durch die Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft gebaut wird, mehr oder weniger behindert. Barrierefreies Bauen führt zur Reduzierung von Behinderungen. Das gilt auch für die Beseitigung von Informations- und Kommunikationsbarrieren. Letzteres ist vor allem für Menschen mit so genannten Sinnes-, Lern- oder geistigen Behinderungen von großer Bedeutung. Hier setzen die neueren Gesetze an, die in den letzten Jahren zugunsten von Menschen mit Behinderung erlassen worden sind: Das SGB IX sowie die Behindertengleichstellungsgesetze des Bundes und zahlreicher Bundesländer zielen auf eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und auf eine selbstbestimmte Lebensführung für Menschen mit Behinderung ab. Diese Ziele sollen vor allem auch durch den Abbau von Mobilitäts-, Informations- und Kommunikationsbarrieren erreicht werden.

Der durch die Gesetzgebung eingeleitete Prozess ist für die Betroffenen von großer Bedeutung. Denn in einer Gesellschaft, die Teilhabe gewährleistet, Menschen mit Behinderung damit von vornherein "dazu gehören" und weitgehende Barrierefreiheit gegeben ist, bestehen keine behindernden Strukturen, oder nur noch in geringem Umfang. Das Anderssein von "Menschen mit Behinderung" wird als normal empfunden. Und der Begriff der "Behinderung" wird sich in einer solchen Gesellschaft möglicherweise auflösen. Der mit dem SGB IX und den Gleichstellungsgesetzen des Bundes sowie der meisten Bundesländer eingeleitete, häufig auch als "Paradigmenwechsel" bezeichnete Prozess ist aber auch Gefährdungen ausgesetzt. Es besteht die Möglichkeit, dass der Teilhabe und Selbstbestimmung von behinderten Menschen aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher Sparzwänge innerhalb der Sozialsysteme die materielle Grundlage entzogen wird, und hierfür notwendige Nachteilsausgleiche nicht (mehr) gewährt werden. Durch eine zunehmende "Privatisierung" von Gesundheits- und Behinderungsrisiken sowie Kürzungen beispielsweise bei der schulischen und beruflichen Bildung von Menschen mit Behinderung können Strukturen entstehen oder verstärkt werden, die ausgrenzend und behindernd wirken. Ob und inwieweit es gelingt, gesellschaftlich bedingte Behinderungen von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen weiter abzubauen, hängt damit auch von den zukünftigen sozialpolitischen Weichenstellungen in Deutschland ab.