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Thesen zum Thema Teilhabe

Tagung "Sozialstaat unter der Augenbinde – Entwicklungen, Grenzen und Visionen" am 14. und 15.09.2006 in Marburg

Thesen zum "Forum 3 - Teilhabe"
- gehalten als „Impulsreferat“ -

1. Der mit dem „Neunten Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ (SGB IX) und dem "Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen" (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) eingeleitete Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik zielt auf die Gewährleistung einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und auf die Ermöglichung einer selbst bestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderung ab. Diese Ziele sollen vor allem auch durch den Abbau von Mobilitäts-, Informations- und Kommunikationsbarrieren erreicht werden.

2. Damit trägt die Gesetzgebung der Erkenntnis Rechnung, dass die konkreten Auswirkungen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung für die hiervon betroffene Person auch von den Bedingungen abhängen, auf die die Beeinträchtigung in der gesellschaftlichen Realität stößt. So ist ein Mensch, der auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen ist, in einer von Mobilitätsbarrieren nahezu freien Umgebung weniger eingeschränkt oder behindert als in einer hindernisreichen Umwelt, d.h. Mobilitäts- wie auch kommunikations- und Informationsbarrieren wirken behindernd.

3. Der Abbau von Barrieren ist dazu geeignet, die gesellschaftlich bedingten Folgen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung zu verringern und damit einen Beitrag zur Herstellung einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu leisten.

4. Allein durch den Abbau von Barrieren kann eine gleichberechtigte Teilhabe jedoch nicht erreicht werden. Denn die betroffenen Personen müssen auch über die materiellen Voraussetzungen verfügen, eine barrierefreie bzw. barrierearme Umwelt nutzen zu können, d.h. blinde oder hochgradig sehbehinderte Personen müssen beispielsweise
- die zusätzlichen Kosten für einen Screenreader erstattet bekommen, um barrierefreie Internetangebote gleichberechtigt Nutzen zu können,
- ein Orientierungs- und Mobilitätstraining finanziert bekommen, um gleichberechtigt am Straßenverkehr teilnehmen zu können,
- einen Nachteilsausgleich zur Finanzierung zahlreicher teuerer blindengerechter Hilfsmittel und Gebrauchsgegenstände des täglichen Bedarfs sowie von Assistenzleistungen erhalten, um nicht gegenüber nicht behinderten Menschen benachteiligt zu werden.

5. Die Herstellung und Gewährleistung einer gleichberechtigten Teilhabe und Selbstbestimmung ist also durch flankierende sozialstaatliche Maßnahmen und Leistungen materiell abzusichern, um die auch unter den Bedingungen einer weitgehenden Barrierefreiheit bestehende Nachteile auszugleichen.

6. Umgekehrt werden eine gleichberechtigte Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung durch umfassende Kürzungen im Gesundheits- und Sozialbereich und durch die daraus resultierende "Privatisierung" von Gesundheits- und Behinderungsrisiken gefährdet.

7. Ausnahmsweise ist der Abbau eines konkreten Nachteilsausgleichs aber dann gerechtfertigt, wenn der Nachteil selbst, für den der Ausgleich gewährt wurde, beseitigt worden ist. So haben beispielsweise die Behindertenverbände in Bremen die Eingrenzung des Personenkreises, die den sog. Sonderfahrdienst nutzen können, auf diejenigen Menschen akzeptiert, die aufgrund der schwere ihrer Behinderung oder der Größe ihres Rollstuhls den zwischenzeitlich barrierefrei gewordenen öffentlichen Personennahverkehr nicht nutzen können.

8. Zu klären ist, wie mit Leistungen umzugehen ist, die auf diskriminierenden Annahmen beruhen, die ausgrenzend wirken und im Widerspruch zu einer gleichberechtigten Teilhabe stehen. Dies gilt beispielsweise für den Anspruch auf Rundfunkgebührenbefreiung, die u.a. behinderten Menschen gewährt wird, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können (§ 6 Abs. 1 Ziffer 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages – BremGBl. 2005, S. 40).
Wenn solche Ansprüche ohne die diskriminierend wirkende Annahme, jemand könne wegen "seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen", nicht zu begründen sind, ist ihre Infragestellung unvermeidbar.