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1 Handlungshilfe zur Erstellung barrierefreier IKT-Produkte – Schwerpunkt: IT-Verfahren

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Handlungshilfe zur Erstellung barrierefreier IKT-Produkte – Schwerpunkt: IT-Verfahren (pdf, 282.5 KB)

1.1 Zielsetzung

Ziel dieser Handlungshilfe ist die Unterstützung bei der Berücksichtigung der barrierefreien Gestaltung von IT-Verfahren im Zuge ihrer Planung, Entwicklung, Ausschreibung und Beschaffung, insbesondere bei Neuanschaffungen, Erweiterungen und Überarbeitungen. Die Handlungshilfe bezieht sich auf IT-Verfahren, die Empfehlung lässt sich aber übertragen auf weitere IKT-Produkte, wie Online-Angebote, Apps o.ä..
Diese Handlungshilfe beschreibt, wie die schrittweise barrierefreie Gestaltung in der Praxis konkret umgesetzt werden soll.

1.2 Zielgruppe

Diese Handlungshilfe adressiert Mitarbeitende, die fachlich verantwortlich für IT-Verfahren sind, d. h. IT-Verfahren beschaffen, einführen oder Anforderungen an diese konzipieren.
Ebenso kann sie Führungskräfte bei der Interpretation der jährlich erhobenen Daten der VIS-Matrix in der Ablage „BremBGG“ unterstützen. Zur Einordnung, vgl. hierzu auch das Rundschreiben des Senators für Finanzen Nr. 16/2020.

1.3 Rechtlicher Rahmen

Grundlage bildet das Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung in Bremen in § 14 BremEGovG. Darüber hinaus verpflichtet das Bremische Behindertengleichstellungsgesetz BremBGG öffentliche Stellen der Freien Hansestadt Bremen und der Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven dazu, ihre digitalen Auftritte und Angebote barrierefrei zur gestalten. Ausnahmen von der Pflicht zur Bereitstellung barrierefreier Informationstechnik bestehen nur unter sehr engen Voraussetzungen (§ 13 Abs. 5 BremBGG).

Die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung BITV 2.0 gilt aufgrund einer dynamischen Verweisung im BremBGG auch für Bremen. Zur technischen Umsetzung verweist die BITV 2.0 auf die harmonisierten Normen EN 301 549 und in § 3 Absatz 3 auf den Stand der Technik, wie die

  • DIN EN ISO 9241
    Die Norm legt Anforderungen zur Mensch-Computer-Interaktionen fest, d.h. zur Arbeitsumgebung, Software und Hardware. Diese sind als Standard für die Benutzerfreundlichkeit (Ergonomie) wichtig, insbesondere Teil 11 und Teil 110. Teil 171 definiert darüber hinaus Leitlinien für die Zugänglichkeit von Software.
  • DIN EN ISO 14289-1
    Die Norm beschreibt den PDF/UA Standard. PDF/UA definiert, wie der PDF-Standard anzuwenden ist, damit ein PDF-Dokument die Anforderungen an Barrierefreiheit erfüllen kann.
  • DIN EN 17161
    Die Norm beschäftigt sich mit Qualitätsmanagement. Sie bietet Methoden, wie mittels entsprechender Prozesse die Barrierefreiheit von Produkten, Waren und Dienstleistungen sichergestellt werden kann. Zielsetzung ist dabei, die Umsetzung des "Design für Alle"-Ansatzes, der es jedem Menschen ermöglichen soll, ohne Assistenz oder individuelle Anpassung Zugang zu erhalten.

Zum Kern der gesetzlichen Regelung der barrierefreien Informationstechnik, den Fristen, der Einordnung des Begriffs der öffentlichen Stelle und zum Vorgehen erfolgen Hinweise ebenfalls im Rundschreiben des Senators für Finanzen Nr. 16/2020.

Die Inklusionsvereinbarung 2024 (PDF,2.8 MB) berücksichtigt die digitale Barrierefreiheit in den Kapiteln 10.3 Informationstechnik und 10.4 Dokumente.

1.4 Sachstand, Art und Umsetzung von Barrierefreiheit der IT-Verfahren

Im Folgenden wird zwischen Bestandsverfahren und Eigenentwicklung neuer bzw. dem Erwerb bestehender Verfahren unterschieden.
Hinweis: Für die Ausschreibung und Beschaffung der Eigenentwicklung neuer Verfahren oder zum Erwerb fertiger Verfahren wird zusätzlich verwiesen auf:

1.4.1 Bestandsverfahren

Als Bestandsverfahren werden hier Anwendungen bezeichnet, die bereits seit längerem im Einsatz sind und deren Ablösung in nächster Zeit nicht geplant ist.
Festzuhalten ist, dass Software gepflegt und gewartet sowie ggf. weiterentwickelt wird. Werden Weiterentwicklungen an Bestandssoftware geplant und beauftragt, ist damit umzugehen wie bei einer Eigenentwicklung neuer Verfahren, vgl. 1.4.2.

Ergänzende Informationen zur Barrierefreiheit für Bestandssoftware finden Sie auch unter:
https://handreichungen.bfit-bund.de/ag02/1.1/barrierefreiheit_fuer_bestandssoftware.html#

1.4.1.1 Umsetzung

Für jedes Bestandsverfahren muss der Stand der Barrierefreiheit festgestellt und in der VIS-Matrix des Ressorts im Datenblatt Fachverfahren, Spalte I „Planung“, dokumentiert werden. Gehen Sie vor, wie im Anhang Barrierefreie digitale Angebote sicherstellen: Maßnahmen- und Zeitpläne erstellen in Schritt 1 beschrieben.

1.4.1.2 Priorisierung

Bei Bestandsverfahren darf im Hinblick auf das schrittweise Herstellen der Barrierefreiheit eine Priorisierung erfolgen. Zu priorisieren sind insbesondere solche Verfahren, die oft eingesetzt und von vielen Menschen genutzt werden. Nicht zu berücksichtigen ist, ob derzeit ggf. keine Beschäftigte mit einer Schwerbehinderung mit dem Verfahren arbeiten

Sofern ein IT-Verfahren von der Herstellung der Barrierefreiheit zurückgestellt wurde, begründen und dokumentieren Sie dies in der VIS-Matrix, Datenblatt Fachverfahren, Spalte G „Ausnahmen“.

1.4.2 Eigenentwicklung neuer Verfahren und Einsatz fertiger Verfahren

Die Sicherstellung der Barrierefreiheit muss insbesondere bei der Neuentwicklung von Verfahren gewährleistet werden. Um dies effizient zu erreichen und Folgekosten zu vermeiden, ist sie von Anfang an zu berücksichtigen.

1.4.2.1 Erwerb

In der Ausschreibung sind Bewertungskriterien für die Umsetzung der Barrierefreiheit zu spezifizieren.
In der Vergabe ist die vorhandene Kompetenz zur Umsetzung barrierefreier Produkte anhand der definierten Kriterien zu bewerten.
Beim Vertragsabschluss sind Haftungsklauseln zur Sicherstellung der Barrierefreiheit bei der Abnahme und im weiteren Betrieb festzuschreiben.
Siehe hierzu auch die unter 1.4 benannten Links.

1.4.2.2 Entwicklung (gilt für Neuentwicklungen und Anpassungen)

Im Rahmen der Entwicklung ist der Stand der Barrierefreiheit kontinuierlich zu bewerten. Gehen Sie vor, wie Anhang Barrierefreie digitale Angebote sicherstellen: Maßnahmen- und Zeitpläne erstellen in Schritt 1 beschrieben.

Ergänzende Informationen für den Entwicklungsprozess finden Sie in der

1.4.2.3 Inbetriebnahme

Ein Pilotbetrieb wird empfohlen abhängig vom Umfang des Verfahrens und der Anzahl der Einsatzorte.

Mit der Fertigstellung und vor Einführung wird ein finaler Prüfbericht zum Stand der Barrierefreiheit vorgelegt. Die voraussichtlich noch vorhandenen Mängel werden bewertet und abgearbeitet. Gehen Sie vor, wie Anhang Barrierefreie digitale Angebote sicherstellen: Maßnahmen- und Zeitpläne erstellen ab Schritt 2 beschrieben.

Die Produkteinführung ist mit einem Probe-Echt-Betrieb zu beenden. Das bedeutet, dass über einen definierten Zeitraum der Betrieb vollumfänglich aufgenommen wird und Erfahrungen insbesondere zur Barrierefreiheit des Produkts erhoben und in den nächsten Zyklus der Maßnahmen- und Zeitplanung eingesteuert werden.

1.4.2.4 Umsetzung

Der Umsetzungsstand und die Planung in Bezug auf die Barrierefreiheit des Produkts ist festzuhalten und in der VIS-Matrix des Ressorts im Datenblatt Fachverfahren, Spalte I „Planung“, zu dokumentieren.

1.4.2.5 Zusätzliche Besonderheiten beim Einsatz fertiger Verfahren

Heute am Markt befindliche Verfahren decken in der Regel Anforderungen der Barrierefreiheit nicht vollumfänglich ab. Daher ist es erforderlich, den Grad der Abdeckung zu Beginn des Beschaffungsprozesses zu prüfen und die ermittelten Defizite perspektivisch zu beseitigen. Die für diese Arbeiten intern und extern entstehenden Aufwände sind bei der Beschaffung einzuplanen.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass dem Hersteller voraussichtlich Kompetenzen und Werkzeuge für die Herstellung der Barrierefreiheit fehlen. Diesem Risiko zu begegnen, erfordert in der Regel einen hohen Aufwand.
Vor allem ist in der Phase der Ausschreibung und Beschaffung zu beachten, dass ein möglichst detaillierter und differenzierter Überblick über die aktuell vorhandenen Mängel und die potenziellen Aufwände der Behebung die beste Basis für eine produktive und effiziente Entwicklungsphase bilden.

2 Anhang

2.1 Barrierefreie digitale Angebote sicherstellen: Maßnahmen- und Zeitpläne erstellen

1. Umsetzungsstand der Barrierefreiheit ist nicht bekannt.

Entscheiden Sie sich für eine angemessene Form der Bewertung und veranlassen Sie diese. Dabei können auch zwei Formen der Bewertung kombiniert werden, z.B. erst eine interne Grob-Einschätzung und dann ein systematischer Test.

  • Grob-Einschätzung durch die öffentliche Stelle
    Beteiligte: erfordert Expertise im eigenen Haus
    Art des Ergebnisses: Identifizierte grobe Mängel
  • Selbsttest des Dienstleistungsunternehmens
    Beteiligte: erfordert Expertise beim Dienstleistungsunternehmen selbst
    Art des Ergebnisses: Identifizierte Mängel nach EN 301 549 bzw. BITV 2.0
  • Expertentest und Gutachten
    Beteiligte: externe Experten beauftragen
    Art des Ergebnisses: Mängelbericht nach EN 301 549 bzw. BITV 2.0 und Umsetzungsempfehlungen, ggf. Beratung zum Gutachten

Ergebnis zu 1.: Mängel-Liste oder bestenfalls Nachweis der Barrierefreiheit]

2. Bewerten der ermittelten Mängel

Gehen Sie wie folgt vor zur Bewertung der ermittelten Mängel:

  1. Entscheiden Sie, ob Teilbereiche oder das Gesamtprodukt so viele Mängel der Barrierefreiheit aufweisen, dass sie ersetzt werden müssen (und neu beschafft).
  2. Nutzen Sie die Testergebnisse zur Information des Dienstleistungsunternehmens über die Handlungsbedarfe. Dabei ist es zielführend, das Dienstleistungs-unternehmen in die Beratung zu den Mängeln einzubinden.
  3. Fordern Sie vom Dienstleistungsunternehmen:
    • Auswertung der Mängel
    • Ableiten von Maßnahmen unter Berücksichtigung von Aufwand, Abhängigkeiten, ggf. Fertigstellungszeitpunkt
    • Entwurf eines Umsetzungsplans aus dem die Beseitigung der Mängel hervorgeht, z.B. über Sprints oder Meilensteine

Ergebnis zu 2.: Priorisierung der Mängel und Entwurf eines Umsetzungsplans mit grober Schätzung des finanziellen Aufwands zur Behebung der einzelnen Mängel.

3. Maßnahmen- und Zeitplan festlegen

Legen Sie die Umsetzungsschritte in einem Maßnahmen und Zeitplan fest.

  1. Bewerten Sie den Zeit- und Kostenplan des Dienstleistungsunternehmens (vgl. 2.c.):
    • Gibt es sachübergreifende Einflüsse oder fachunabhängige Faktoren zur Bewertung des Maßnahmen- und Zeitplans?
    • Sind die Prioritäten richtig gesetzt und der zeitliche Ablauf passend? Stehen z.B. für Einzelmaßnahmen Nutzen und Aufwände in einem angemessenen Verhältnis?
    • Ist die Finanzierung sichergestellt? Wurde Barrierefreiheit bereits gefordert (z.B. in der Ausschreibung) und beauftragt?
  2. Vereinbaren Sie Termine zur Abnahme umgesetzter Maßnahmen.

Ergebnis zu 3.: Maßnahmen- und Zeitplan zur Behebung der Mängel.

4. Maßnahmen- und Zeitplan kontrollieren

Kontrollieren Sie die Umsetzung des Maßnahmen- und Zeitplans.

  1. Entscheiden Sie vor jedem Termin zur Abnahme umgesetzter Maßnahmen, wie eine angemessene Form der Bewertung der Barrierefreiheit erfolgt:
    • Grob-Einschätzung durch die öffentliche Stelle
      Beteiligte: erfordert Expertise im eigenen Haus
      Art des Ergebnisses: Identifizierte grobe Mängel
    • Selbsttest des Dienstleistungsunternehmens
      Beteiligte: erfordert Expertise beim Dienstleistungsunternehmen selbst
      Art des Ergebnisses: Identifizierte Mängel nach EN 301 549 bzw. BITV 2.0
    • Expertentest und Gutachten
      Beteiligte: externe Experten beauftragen
      Art des Ergebnisses: Mängelbericht nach EN 301 549 bzw. BITV 2.0 und Umsetzungsempfehlungen, ggf. Beratung zum Gutachten
  2. Gestalten Sie die Abnahme unter der Maßgabe:
    • Wie werden noch vorhandene oder neu identifizierte Mängel in die ausstehenden Behebungsschritte aufgenommen?
    • Vor der finalen Abnahme des Produkts ist ein externes Gutachten der gesamten Anwendung zielführend:
      Darin identifizierte Mängel sind zu priorisieren anhand der Nutzbarkeit des Produkts.
      Behebung der letzten Mängel und Nachtest dieser (vgl. 5.).

Ergebnis zu 4.: Entweder abschichtende Abnahme der Behebung einzelner Mängel oder am Ende finale Abnahme des gesamten umgesetzten Maßnahmenplans.

Finale Abnahme vorbereiten

Bewerten Sie die Benutzbarkeit und Praxistauglichkeit zur finalen Abnahme.

  1. Gestalten Sie die Einführung des Produkts im Rahmen eines Probe-Echt-Betriebs und evaluieren Sie diesen.
  2. Lassen Sie die im externen Gutachten identifizierten Mängel beheben. Wiederholen Sie hierfür Schritt 2-4.
  3. Sammeln Sie Erfahrungen zur Bewertung der Benutzbarkeit:
    • Zu welchen Ergebnissen kommen Usability-Tests mit behinderten Menschen?
    • Welche Erfahrungen machen Mitarbeitende mit der verbesserten Anwendung?
  4. Identifizieren Sie im Ausnahme-/ und Einzelfall Möglichkeiten zur Kompensation nicht sinnvoll behebbarer Mängel der Barrierefreiheit:
    • Welche angemessenen Vorkehrungen, im Sinne von Einzelfall-Lösungen, können bzw. müssen zusätzlich getroffen werden?
    • Lassen sich Mängel der Barrierefreiheit aufgrund fehlender Gebrauchstauglichkeit durch Schulung kompensieren?

Ergebnis zu 5.: Einordnung des Produkts im Sinne der Benutzbarkeit und Praxistauglichkeit zur finalen Abnahme.