„Wohin geht die Reise?“ werden sich einige der an Sozial- und Behindertenpolitik Interessierten nach der Bildung der CDU/CSU-SPD-Bundesregierung und der so häufig heraufbeschworenen „Haushaltsnotlage“ des Bundeslandes Bremen fragen.
Die Bundesregierung will den in der Politik für behinderte Menschen eingeleiteten Prozess zur Verwirklichung einer umfassenden Teilhabe in der Gesellschaft fortsetzen.
Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD heißt es: „Die Unterstützung von Selbstständigkeit, Selbsthilfe und Selbstbestimmung ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den Verbänden behinderter Menschen werden wir die Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so weiterentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und leistungsfähiges System zur Verfügung steht.
Dabei haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die Umsetzung der Einführung des Persönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert. Wir wollen, dass die Leistungen zur Teilhabe an Gesellschaft und Arbeitsleben zeitnah und umfassend erbracht werden.“
Und die neu ernannte Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, die Bundestagsabgeordnete Karin Evers-Meyer, kündigt in ihrer ersten Pressemitteilung an, dass sie gemeinsam mit ihrem Arbeitsstab sehr engagiert daran arbeiten werde, dass die berechtigten Interessen behinderter Menschen in die anstehenden Gesetzesvorhaben Eingang finden. Bedeutung könnte dies beispielsweise für das zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz haben, das aufgrund europarechtlicher Regelungen voraussichtlich in der laufenden Wahlperiode in Kraft treten wird.
Wünschen wir der neuen Behindertenbeauftragten der Bundesregierung gutes Gelingen und unterstützen wir sie nach besten Kräften. Bei der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe, die von der Bundesregierung angestrebt wird, sollten behinderte Menschen und ihre Interessenvertretungen darauf achten, dass eine wirklich gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht durch niedrige Einkommens- und Vermögensgrenzen, vereitelt wird. Findet nämlich eine Bedürftigkeitsprüfung auf dem Niveau der Sozialhilfe statt, geht es nicht allein um den Ausgleich der Nachteile, die durch eine Behinderung verursacht werden; vielmehr muss unter der Voraussetzung einer solchen Prüfung zusätzlich eine finanzielle Bedürftigkeit gegeben sein. Machen wir uns also stark für ein Bundesleistungsgesetz, dass bestehende Benachteiligungen für alle Menschen mit Behinderung auszugleichen hilft und nicht etwa nur einer weiteren Absenkung des Niveaus der Eingliederungshilfe dient.
Letzteres scheint aber in Bremen politische Absicht zu sein: Denn die Kosten, die das Sozialressort Trägern von Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen aus den Mitteln der Eingliederungshilfe erstattet, sollen deutlich reduziert werden; im Frühjahr 2005 war noch die Rede von 14,8 Prozent. Dass dies nicht ohne negative Folgen für die Menschen ist, die dort leben (müssen), liegt dabei auf der Hand und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Den so in den Sparstrudel Geratenen kann man nur wünschen, dass die öffentliche Meinung ihnen Gehör und deutliche Unterstützung gewährt, geht es doch um nicht weniger als ein Leben in Würde und Selbstbestimmung. Wer möchte schon von häufig wechselnden Personen auch im Intimbereich gewaschen werden und sich nach dem Schichtplan anderer richten müssen, der den Takt des eigenen Lebens angibt?
Statt pauschal zu streichen, ist eine Stärkung der Selbstbestimmung geboten: Fachleute sind sich sicher, dass mit einer konsequenten Umsetzung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ nicht nur ein selbstbestimmteres Leben ermöglicht wird, sondern auch Einspareffekte erzielt werden können. Gleiches gilt für eine stärkere Verzahnung von ambulanten mit stationären Angeboten. An einer Diskussion solcher Konzepte in der (Fach-) Öffentlichkeit scheint es in Bremen aber zu fehlen; es drängt sich der Eindruck auf, als würden die tatsächlichen und vermeintlichen Sparzwänge in Bremen eine lähmende Wirkung entfalten, die die Weiterentwicklung bestehender Konzepte und neue Ideen deutlich behindert. Was beispielsweise hindert den Senat und das Sozialressort daran, das Konzept „ambulant vor stationär“ mit einem „Bündnis für selbstbestimmtes Leben“ voranzubringen oder für ein Bundesleistungsgesetz einzutreten, das die Finanzlasten für die Eingliederungshilfe zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu regelt und gleichzeitig einen realen Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile schafft?
Und dann ist da noch das „Bremische Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung – Bremisches Behindertengleichstellungsgesetz (BremBGG)“. Es ist am 1. Januar 2004 in Kraft getreten und verpflichtet das Land sowie seine beiden Stadtgemeinden dazu, auf die Beseitigung bestehender und die Vermeidung neuer Benachteiligungen behinderter Menschen hinzuwirken und Barrierefreiheit bei der Kommunikation und der Gewinnung von Informationen sowie im Baubereich herzustellen. Dem liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass eine gesundheit¬liche Beeinträchtigung sich weniger einschränkend auswirkt, wenn sie nicht auf Hindernisse bzw. Barrieren stößt. So verfügt ein Mensch mit Rollstuhl in einer barrierefreien Umgebung über eine nahezu uneingeschränkte Mobilität, während er dort, wo dies nicht der Fall ist, durch Hindernisse wie Treppen usw. ständig „Behindert“ wird.
Wenn in Bremen aber – wie in der jüngsten Vergangenheit geschehen – ein Sozialzentrum neu angemietet wird, das nur über einen Fahrstuhl verfügt, der von Menschen mit Elektrorollstuhl in vielen Fällen nicht genutzt werden kann, dann steht dies im Widerspruch zum BremBGG. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass diejenigen, für die der Fahrstuhl zu eng ist, in einem Serviceraum im Erdgeschoss abgefertigt werden sollen. Denn nach dem BremBGG ist ein Gebäude nur dann barrierefrei, wenn es für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar ist.
Handelt es sich bei diesem Fall nur um allgemeine Anlaufschwierigkeiten eines noch jungen und wenig bekannten Gesetzes oder erliegen Politik und Verwaltung der Versuchung, den Haushaltsvorbehalt des BremBGG weit auszulegen. Der Behindertenbeauftragte wie auch die Verbände behinderter Menschen werden darauf achten müssen, dass sich eine solche Tendenz nicht durchsetzt, soll das BremBGG nicht nahezu wirkungslos bleiben. Begrüßenswert wäre es, wenn es tatsächlich zu einem gemeinsamen „Verbandsklagefonds“ kommen würde, der seit einiger Zeit in Bremen diskutiert wird und durch den das finanzielle Risiko einer Verbandsklage nach dem BremBGG auf mehrere Schultern verteilt werden könnte. Allein schon eine (eventuell) drohende Verbandsklage könnte die Verwaltungen des Landes und der Stadtgemeinden dazu anhalten, ihre Verpflichtungen aus dem BremBGG ernst zu nehmen.
Insgesamt geht es darum, die Weichen so zu stellen, dass die Lebensqualität behinderter Menschen durch eine rigide Sparpolitik nicht weiter eingeschränkt wird, sondern dass die Reise in Richtung auf mehr Teilhabe, Selbstbestimmung sowie Barrierefreiheit geht. Dies ist eine schwierige Aufgabe, die aber bewältigt werden kann, wenn die Vertretungen von Menschen mit Behinderungen solidarisch handeln und es ihnen gelingt, wesentliche Teile der Öffentlichkeit für ihre Ziele zu gewinnen.
Kontakt zum Behindertenbeauftragten:
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"Gastkommentar - Weichenstellungen" (pdf, 91.2 KB)