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Austausch des LBB mit Heilerziehungspfleger*innen zur Lage behinderter Menschen in besonderen Wohnformen während der Coronapandemie

Teilnehmer:innen des Austausch
Foto: LBB

Im Rahmen eines Projektes im letzten Lehrjahr zum/zur Heilerziehungspfleger:in haben sich Carlotta Janßen, Fynn Schilling, Nicolas Wintjen und Sally Goletz in den vergangenen Monaten der Situation der Nutzer:innen von besonderen Wohnformen gewidmet. Ihren abschließenden Artikel haben Sie dem LBB zukommen lassen.
In einer gemeinsamen Videokonferenz Ende März 2021 ließ sich der Beauftragte die Erfahrungen schildern. Es ging unter anderem um die Einschränkungen der Selbstbestimmung in vielen Einrichtungen aus Gründen des Infektionsschutzes und die daraus entstandenen Problemlagen der Nutzer:innen. Die Gesprächsteilnehmer:innen stimmten überein, dass viele Folgen der Pandemie noch nicht absehbar sind und gezielt daran gearbeitet werden muss, Benachteiligung zu verhindern. Mit Blick in die Zukunft bestärkten die angehenden Heilerziehungspfleger:innen den LBB in seiner Meinung, dass verstärkt kleine, dezentrale Wohnmöglichkeiten sowie mehr Mitbestimmung der Nutzer:innen unabdingbar sind, um gleichberechtigt das Menschenrecht auf selbstbestimmte Lebensführung in der Gemeinschaft wahrzunehmen.

Artikel von Carlotta Janßen, Fynn Schilling, Nicolas Wintjen und Sally Goletz

Menschen in stationären Wohnheimen während der Coronapandemie

Es ist Frühjahr 2020, die Coronapandemie bestimmt den Alltag der Menschen auf der ganzen Welt. Unser aller Leben ändert sich schlagartig. Die Infrastruktur, die das öffentliche Leben aufrechterhält, unterliegt drastischen Einschränkungen. Nicht lebensnotwendige Geschäfte, sowie Restaurants, Freizeit- und Kulturstätten werden geschlossen, soziale Kontakte begrenzt. Aufgrund von staatlichen Vorgaben, wie dem Lockdown und der Reduzierung sozialer Kontakte, kommt es innerhalb der Bevölkerung zu Gefühlen der Angst und Einsamkeit. Es gibt Personengruppen, die besonders stark von der Pandemie und den einhergehenden Maßnahmen betroffen sind. Zu diesen Gruppen gehören auch Menschen mit Beeinträchtigungen, besonders solche, die in stationären Wohneinrichtungen leben.

Fynn Schilling (23, Gnarrenburg), Carlotta Janßen (23, Bremen, aufgewachsen in Sottrum), Nicolas Wintjen (29, Selsingen) und Sally Goletz (21, Bremen, aufgewachsen in Beverstedt) sind in der Ausbildung zum/zur HeilerziehungspflegerIn und möchten im Rahmen eines Jahresprojektes, welches als Abschlussarbeit gewertet wird, auf das Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen während der Coronazeit im stationären Wohnen aufmerksam machen.
„Wir haben uns die Frage gestellt, welche Auswirkungen die staatlichen Vorgaben und die daraus resultierenden Hygienekonzepte auf die Bewohner*innen und deren Leben haben.“ (Fynn Schilling). In anonym geführten Interviews mit Bewohner*innen, Mitarbeiter*innen und Leitungen verschiedener Wohnheime in Bremen und Niedersachsen sind sie zu teilweise erschreckenden Ergebnissen gekommen.

Unsicherheit bestimmt das Handeln

Als die ersten Coronafälle in Deutschland auftraten, herrschte eine große Unsicherheit. Die Virologen waren sich noch nicht einig, wie gefährlich dieses Virus tatsächlich sei. Als gesicherte Information gilt jedoch, dass Menschen mit Beeinträchtigungen zu einer besonders gefährdeten Risikogruppe gehören. Es war also klar, dass diese Gruppe an Menschen einen besonderen Schutz braucht. Schnellstens mussten Hygienekonzepte zum Schutze der Bewohner*innen erstellt werden. Im Optimalfall wurden diese Konzepte in Kooperation mit dem zuständigen Gesundheitsamt erstellt. Da kaum eine Einrichtung auf eine Pandemie vorbereitet war und schon gar nicht auf eine, die ein solches Ausmaß erreicht, wurden schnell erste Maßnahmen ergriffen. Bewohner*innen wurden isoliert und Besuchsverbote erlassen. Die Wohnheime waren
aufgrund der Gefährdungslage sehr vorsichtig, leider hatte dies zur Folge, dass die Freiheit und Selbstbestimmung der Bewohner*innen stark eingeschränkt wurde. Viele durften von einem auf den anderen Tag nicht mehr allein die Einrichtung verlassen, zum Beispiel, um für die Gruppe einzukaufen, wie sie es sonst regelmäßig taten. Nicht nur der persönliche Kontakt zu Familien und Freunden wurde eingeschränkt, oftmals wurde der Kontakt zu Bewohner*innen in anderen Gruppen innerhalb eines Hauses untersagt. Viele Wohneinrichtungen versuchten ihre Gruppen so stark zu trennen, dass nur noch Einzelaktivitäten möglich waren und die Mahlzeiten in Kleinstgruppen von höchstens drei Personen in einem Raum oder ganz allein eingenommen werden mussten. Die vorher bekannte familiäre Wohn- und Lebenssituation ging dadurch auf einmal verloren. Das Leben wurde für einige Bewohner*innen schon fast zu einer dauerhaften Quarantäne, auch ohne Infektion. Eine Mitarbeiterin berichtete davon, dass Bewohner*innen auf ihren Zimmern regelrecht eingesperrt wurden, um die Kontakte innerhalb der Gruppe reduzieren und kontrollieren zu können.

Während die psychische Belastung stieg, fielen Entlastungsmöglichkeiten weg. Werkstätten und Tagesstätten für Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen wurden geschlossen. So ging für viele Bewohner*innen eine wichtige strukturgebende Tätigkeit verloren. Auch das Wegfallen von Gruppenaktivitäten und Ritualen, wie spazieren gehen, Singkreisen oder dem gemeinsamen Kochen, bedeutete für den Großteil eine starke Veränderung in ihrem Leben.

Viele Bewohner*innen hatten aufgrund ihrer Beeinträchtigung Schwierigkeiten zu verstehen, wieso sich ihr Leben auf einmal so stark veränderte. Teilweise wurden einige nicht genügend darüber aufgeklärt, was es mit Corona auf sich hat und wieso sie in ihrer Freiheit so stark eingeschränkt werden. Auch, dass die Angestellten der Einrichtungen auf einmal einen Mund-Nasenschutz tragen mussten, wurde für einige Bewohner*innen zu einem Hindernis. Nicht nur, dass die Betreuer*innen anonym wirkten und die Mimik wegfiel, auch die Gesprächsqualität nahm dadurch ab. Für Menschen mit Hörproblemen stellt es eine große Hürde dar, wenn ihr gegenüber nicht mehr so gut zu verstehen ist, wie sie es eigentlich gewohnt sind. Methoden, wie Lippenlesen, konnten nicht mehr angewendet werden. Ebenso fielen kleine Zugewandtheiten, wie Umarmungen oder die persönliche Begrüßung per Handschlag, von dem einen auf den anderen Tag weg. "Dadurch veränderte sich die Beziehung zu einigen Bewohnern", berichtete der Mitarbeiter einer Einrichtung.

Ängste und Überforderung prägen den Alltag

Die Angestellten der Einrichtungen waren sich anfangs unsicher, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollten. Durch das Risiko andere oder sich selbst anzustecken und die häufigen Veränderungen der Hygienekonzepte, fühlen sich viele bis heute überfordert. Die Angst der Mitarbeiter*innen vor einem Ausbruch des Virus innerhalb der Gruppen war in allen Gesprächen spürbar. Viele haben die Sorge sich innerhalb der Einrichtung mit dem Virus anzustecken, da sie aufgrund der Pflege jeden Tag engen Körperkontakt zu den Bewohner*innen haben. Eine Mitarbeiterin äußerte sich im Laufe des Interviews folgendermaßen: "Für mich finde ich es sehr gefährlich, weil ich selbst zur Risikogruppe gehöre und zu Hause einen nicht gesunden Mann habe". Kurz darauf meinte sie, dass der allgemeine Kontakt zu Menschen in der Einrichtung größer sei, als im privaten Rahmen. Viele schränkten von Beginn der Pandemie bis heute, aufgrund der Arbeit, ihr Privatleben deutlich mehr ein, als es die Auflagen verlangten. Eine Trennung zwischen dem Privatleben und der Arbeit ist so kaum mehr möglich. "Ich könnte es mir nie verzeihen das Virus in die Einrichtung zu bringen", so die Aussage einer Mitarbeiterin.

Schutz um jeden Preis?

Die Einrichtungen standen vor der Frage, wie man die persönliche Freiheit und Selbstbestimmung der Bewohner bewahren, und zeitgleich das Risiko einer Infektion
möglichst gering halten kann. Oftmals war es leider nicht möglich beides aufrechtzuerhalten und so entschieden sich viele Einrichtungen dazu, die Freiheiten der Bewohner*innen teilweise stark einzuschränken. Auch hier gaben viele Mitarbeiter*innen und vor allem Leitungskräfte zu, sich überfordert gefühlt zu haben. Doch rechtfertigt die Überforderung mit dieser Situation eine so massive Einschränkung des Rechtes auf Selbstbestimmung?

Selbstbestimmung bedeutet, dass eine Person selbst entscheiden kann, was sie tun möchte, solange dies nicht gesundheitsgefährdend für sie oder andere Personen ist. Jedoch sind stationäre Einrichtungen auch außerhalb der Pandemie häufig von Fremdbestimmung geprägt. Oftmals entscheiden das Personal und die Struktur der Einrichtung, was es zu essen gibt, wann die Bewohner*innen ins Bett gehen oder wann sie duschen. Teilweise entscheidet dieses Personal sogar, wann die Bewohner*innen fernsehen dürfen, welcher Sender läuft oder gar, wann sie auf Toilette gehen. Oftmals sind sich Mitarbeiter*innen gar nicht bewusst, in welcher Machtposition sie sich hier befinden und nutzen diese möglicherweise auch gerade deswegen unbewusst aus. Einige Bewohner*innen können sich damit arrangieren, andere fordern ihre Selbstbestimmung aktiv ein, indem sie ihre Bedürfnisse aufzeigen. Häufig bleibt dem Personal aber nicht die Zeit, sich um die Bedürfnisse verschiedener Bewohner*innen gleichermaßen zu kümmern, da andere Aufgaben, wie beispielsweise Wäsche waschen oder Kochen, erledigt werden müssen. Außer Frage steht natürlich, dass dies häufig der mangelnden Personalsituation geschuldet ist, als Entschuldigung sollte dies dennoch nicht gelten.

Folgen der Isolierung

Die Reaktionen der Bewohner*innen auf die pandemiebedingten Maßnahmen der Einrichtungen waren sehr facettenreich. Traurigkeit oder Wutausbrüche wurden von
Mitarbeiter*innen häufig beobachtet. Teilweise wurde von selbstverletzendem Verhalten berichtet. Ein Bewohner flüchtete aus seinem Wohnheim, weil er nach eigener Aussage "nicht eingesperrt sein wollte".
Einige Einrichtungen versuchten den Bewohner*innen per Videocall die Möglichkeit zu geben, ihre Freunde und Verwandten zu sehen. Leider war dies nicht überall der Fall. In manchen Wohnheimen entspannte sich die Lage ein wenig, als Vorgaben gelockert wurden und die Bewohner*innen wieder unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen Besuch empfangen durften. Doch normal waren diese Besuche bei Weitem nicht. Eine Bewohnerin berichtete: "Ich durfte meine Eltern nicht besuchen. Wir mussten uns draußen treffen." Je näher der Winter kam, desto weniger Besuche empfingen einige Bewohner*innen, da Treffen draußen zu kalt waren. Bis heute leiden viele Bewohner*innen der Einrichtungen unter der Isolierung, die sie gerade zu Anfang der Coronazeit erleiden mussten. Viele Einrichtungen führten einen verpflichtenden Schnelltest für Bewohner*innen, Mitarbeiter*innen und Besucher*innen ein. Durch mehr Freiheiten, wie zum Beispiel Besuche in den persönlichen Räumen der Bewohner*innen, verbesserte sich die Lage schon ein wenig. Leider muss man auch hier sagen, dass es nicht in allen Einrichtungen so aussieht.
Aber die Hoffnung auf noch mehr Normalität steigt auch dadurch, dass viele Wohnheime schon "durchgeimpft" wurden. Oder wie ein Bewohner treffend sagte: "Bald sind wir alle geimpft, dann wird alles gut."